Die Glasbläserin. Oder: Poesie als Überlebensmittel

Ein Essay über Else Lasker-Schüler von Heiner Bontrup

 

 Ich war dreizehn oder vierzehn, und mein Lieblingsort war eine alte Buchhandlung in meiner Heimatstadt. Beim Stöbern fiel mir ein Gedichtband in die Hände: „Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts“ - mit einem Geleitwort von Gottfried Benn. In dem schmalen Bändchen von etwas mehr als 150 Seiten waren sie (fast) alle vereint, die die Lyrik des Expressionismus geprägt hatten: Georg Trakl, Georg Heym, Ernst Stadler und manch andere, die heute mehr oder weniger in Vergessenheit geraten sind. Mich hatte der Sound dieses expressionistischen Jahrzehnts sofort mit- und hingerissen: die Kühnheit der Sprachbilder und das Stakkato der Syntax, das Groteske und das Schiefe. Ich las diese Gedichte mit naivem Staunen und leiser Bewunderung: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.

 

In diesem Band begegnete ich zum ersten Mal den Gedichten von Else Lasker-Schüler. Ich erinnere mich, dass mir ihre Gedichte in diesem Bändchen wie Fremdkörper vorkamen. Abgesehen von der Lyrik Else Lasker-Schülers und Georg Trakls durchwehte ein böser, ein anklagender Ton die Verse. Größer konnte der Kontrast der Lyrik Else Lasker-Schülers nicht sein als etwa zu der Gottfried Benns, dessen literarische Mentorin und Geliebte sie wurde. Benn, der als Pathologe tagsüber Leichen sezierte und nachts Gedichte schrieb (oder umgekehrt), schaute mit einem mitleidlosen Blick auf die Wirklichkeit. In seinen Morgue-Gedichten nimmt er den Leser an die Hand, führt ihn durch die „Krebsbaracke“ und konfrontiert ihn - obszön mit dem Voyeurismus des Lesers spielend - mit der physischen Seite menschlichen Leidens. In dem Gedicht Arzt (II) zieht er zynisch die anthropologische Summe: „Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch“.

 

Meinwärts

 

Bei Else Lasker-Schüler nichts davon: kein Zynismus, kein poetisches Lautsprechertum, keine lyrischen Zampanoiaden, kein „Ecce homo-Pathos“, keine Menschheits-, keine Götterdämmerung. Stattdessen Elegien, die nach innen tönen - wie etwa im „Lied an Gott“:

 

Wo ende ich? – O Gott,  denn in die Sterne,

Auch in den Mond sah ich in alle Deiner Früchte Tal.

Der rote Wein wird schon in der Beere schaal

Und überall – die Bitternis – in jedem Kerne.

 

In der letzten Strophe dieses Gedichtes wendet sich das Lyrische Ich zwar an Gott, aber die Anrufung verliert sich im Kosmos, in Gottes großer Schöpfung. Seinen Widerhall findet der Ruf einzig im Ich - wie der Schrei des kreatürlichen Menschen in Edvard Munchs berühmten gleichnamigen Bild.

 

In manchen ihrer Gedichte finden sich apokalyptische Züge, etwa in dem literaturgeschichtlich bedeutsamen „Weltende“. Aber der Grundgestus ihrer Gedichte ist nach innen, nicht nach außen gewendet. Eher sind ihre Gedichte „im-pressiv“ (nicht impressionistisch) denn ex-pressiv. Sie spricht „meinwärts“, eine dieser unnachahmlichen Wortneuschöpfungen, die die Fluchtbewegung ihrer Poesie so treffend beschreibt. Ihre männlichen Zeitgenossen klagen, fluchen, wenden ihre Wut ob des unkontrollierten Wachstums der Städte, der Naturzerstörung, den verlogenen politischen Parolen des Kaiserreichs in Zynismus und Pathos. Sie aber wendet sich vor allem nach innen, darin möglicherweise eine Seelenverwandte Georg Trakls, mit dem sie später befreundet war.

 

Diese Unterschiede waren mir damals nicht bewusst; merkwürdig fremd blieben mir ihre Gedichte. Zuviel Mond und zu viele Sterne waren mir darin: verblichene Sprachbilder vergangener Epochen. Wo bei Goethe der Mond „löset endlich auch einmal meine Seele ganz“, wo Eichendoff in der „Mondnacht“ die Seele „weit ihre Flügel“ spannen lässt, „als flöge sie nach Haus“, „tropft“ bei Oskar Kanehls Sonnenuntergang „vom Himmel Eiter, Mond“. Das war mir als pubertierendem Jungen in den 1970er Jahren deutlich näher.

 

Heute, mehr als drei Jahrzehnte später, sehe ich mit anderen Augen auf Else Lasker-Schüler. Wie ein Wunder erscheint es mir, dass sie weiter spielte auf der Klaviatur ihrer Poesie, „seitdem die Welt verrohte“. SA-Trupps im Berlin des Jahres 1933 hatten die Dichterin auf offener Straße geschlagen. Da stand das blaue Klavier ihrer Kindheit zwar eine Weile „im Dunkel der Kellertür“, aber aufgehört zu spielen hat Else Lasker-Schüler dennoch nicht. Gerade nicht, extra nicht! Denn Schreiben, Dichten war für sie, die sich aus dem Kreis des bürgerlichen Lebens und zum Teil auch des Literaturbetriebs herauskatapultierte hatte, eine Überlebensstrategie. Die Grenze zwischen Leben und Poesie, zwischen Dichtung und Wirklichkeit einzureißen, war für sie ein Lebensprogramm. Ihr Werk ist ihre Autobiographie.

 

Else Lasker-Schüler stirbt am 22. Januar 1945 - in ihrer „Stadt der wilden Juden“, in Jerusalem, einen langen und schweren Tod. Ein Leben ist zu Ende gegangen, gelebt in aller Radikalität - bis an die Grenze des Aushaltbaren und auch darüber hinaus. Als es zu Ende ging, wusste sie,

 

„daß ich bald sterben muss –

Es leuchteten doch alle Bäume -

Nach langersehntem Julikuss.

 

Fahl werden meine Träume.

Nie dichtete ich einen trüberen Schluss

In den Büchern meiner Reime.

 

Eine Blume brichst du mir zum Gruß,

Ich liebte sie schon im Keime

... Doch ich weiß, daß ich bald sterben muss.

 

Mein Odem schwebt über Gottes Fluss - 

ich setze leise meinen Fuss

Auf den Pfad zum ewigen Heime."

 

In dieser ver-rückt und unmenschlich gewordenen Zeit war das Dichten ihre zweite Heimat geworden. Gottfried Benn hat in einem Essay den „Glasbläser“ als Chiffre für den Dichter erfunden. Ein Bild, das die Dichtkunst der Else Lasker-Schüler trifft: Der Glasbläser erschafft ein Gebilde aus Glas, er formt es mit seinem Atem. So haucht Else Lasker-Schüler den Gedichten Leben ein –: und formt sie zugleich. Wie ein Glasgefäß trennen sie die Welt auf in ein Innen und ein Außen. Aber durch ihre plastische und zugleich diaphane Gestalt können die Gedichte uns die Wirklichkeit in neuem Lichte erscheinen lassen. Wie das zarte, dünnwandige Glas eines Kelchs sind sie von zerbrechlicher Feinheit und Schönheit. Else Lasker-Schüler ist eine Bewohnerin dieser gläsernen Welt: „Ich weiß, ich bin im Kugelglas der Rest“, schreibt sie in ihrem Gedicht „Gebet“. Im Dichten weiß sie sich Gott ganz nah:

 

Und wenn der letzte Mensch die Welt vergießt,

Du mich nicht wieder aus der Allmacht läßt,

Und sich ein neuer Erdball um mich schließt.

 

Else Schüler wuchs behütet am unteren Rand des vornehmen Briller Viertels auf, in dem die durch Textilproduktion und -handel reich gewordenen Elberfelder Bürger sich niedergelassen hatten. Der Vater war ein wohlhabender Privatbankier; Else erlebte ihn als Beschützer der Familie und als einen salomonischen, gütigen Mann. Ihre Mutter war für sie der „große Engel, der neben mir ging“. Dagegen litt sie unter den antisemitische Hänseleien der Kinder auf dem Schulweg. Bilder bitterer Armut und latenter oder auch offener Aggression prägen sich bei ihr ein bei ihren Spaziergängen mit dem Vater durch die Arbeiterquartiere der Elberfelder Nordstadt. Seismographisch nimmt Else Schüler die Stimmungen um sich herum wahr. Sie zieht sich in ihre Innenwelt zurück und folgt der Spur der Bilder, die vor ihrem geistigen Auge ablaufen. Sie spielt mit bunten Knöpfen, Murmeln und Glaskugeln, aus denen sie Phantasiegebilde schafft. Diese kindlichen Spiele sind Präludien ihrer späteren Arbeit als Dichterin. So wird die Kindheit der Ursprungsort ihrer Einkehr ins Ich und der Ausganspunkt ihrer Phantasiereisen, die sie später zu großer Literatur machen wird. Weltflüchtig begibt sie sich hinein in ihre Anderwelt, ihr nowhere land. Hier spinnt sie sich ein – „Fäden möchte ich um mich ziehn“. Aber von hieraus spinnt sie sich auch aus: in die reale Welt, in der sie lebt. Das Niemandsland ihrer Kindheit ist der Ort, an den sie immer wieder zurückkehren wird, wenn die Katastrophen des Lebens sie einholen. Hier schöpft sie die Kraft zum Weitermachen: mit dem Leben ­– und mit dem Dichten: Poesie als Überlebensmittel.

 

Zunehmend entwickelt sie dabei ein sublimes Gefühl für Rhythmik und Metrik. Sie schreibt Gedichte, die bis heute zu den Wunderwerken deutscher Sprache zählen, beispielsweise:

 

 

Ein alter Tibetteppich

 

Deine Seele, die die meine liebet

Ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet

 

Strahl in Strahl, verliebte Farben,

Sterne, die sich himmellang umwarben.

 

Unsere Füße ruhen auf der Kostbarkeit

Maschentausendabertausendweit.

 

Süßer Lamasohn auf Moschuspflanzentron

Wie lange küsst dein Mund den meinen wohl

Und Wang die Wange buntgeknüpfte Zeiten schon.

 

Für Karl Kraus gehörte dieses Gedicht „zu den entzückendsten und ergreifendsten, die ich je gelesen habe, und wenige von Goethe abwärts gibt es, in denen so wie in diesem Tibetteppich Sinn und Klang, Wort und Bild, Sprache und Seele verwoben sind.“ Über fünf Verse erstreckt sich gebetsmühlenartig, den Leser in meditative Ruhe versetzend, ein fünfhebiger Trochäus von erhabener Ruhe und Gleichmaß. Sanft-mütig und zugleich von tänzerischer Leichtigkeit getragen, klingen die letzten beiden Zeilen in jambischen Versmaß aus: Ein Lobgesang auf die Liebe und auf den Geliebten, der – natürlich – nicht von dieser Welt ist, sondern Emissär einer spirituellen Welt. Aber zugleich auch ein sinnlicher Geliebter, den der aphrodisierende Odem der Moschuspflanze und exotischer Zauber umweht. Die Frage: „Wie lange küsst dein Mund den meinen wohl“ löst die Erdenzeit ins Nietzscheanische „Und alle Lust will Ewigkeit“. Ein Vers genügt, um die Einheit von Augenblick und Unvergänglichkeit in ein magisches nunc stans, in ein stehendes Jetzt aufzulösen. Die Liebe ist ein Verwobensein mit der Seele des Geliebten, zugleich aber auch mit dem Ganzen des Seins; alles Seiende ist auf magische Weise miteinander verwoben wie die Schlingen des tibetanischen Teppichs. Synästhetisch wird diese Alleinheit im Strahlenspiel der Seele(n) imaginiert: Die Grenzen zwischen Poesie, Liebe, spiritueller Erfahrung, Entgrenzung ins Kosmische zerfließen. Das Gedicht wird zum gläsernen Lichtfänger, zerlegt die Strahlen prismatisch und erhellt den Innenraum unseres Bewusstseins, wird zum Lichtspielhaus des rauschhaft-spirituell aufgeladenen Unbewussten.

 

 

Zwischenreich

 

Legendär sind die ersten Sätze ihrer Kurzbiographie in der von Kurt Pinthus 1919 herausgegebenen Anthologie Menschheitsdämmerung: "Ich bin in Theben geboren, wenn ich auch in Elberfeld zur Welt kam im Rheinland. Ich ging bis elf Jahre in die Schule, wurde Robinson, lebte fünf Jahre im Morgenlande, und seitdem vegetiere ich." Der Humor gehört zu den schönsten Erscheinungsformen ihrer Dichtung, sie konnte eben nicht nur „Weltende“, sondern auch Ulkiaden.

 

Das Zwischenreich der Dichterin ist angesiedelt zwischen dem Land der reinen Einbildungskraft und dem der bloßen Tatsachen. In ihm ist die Welt nicht, was der Fall ist, sondern das, was möglich wäre. Ihr Niemandsland liegt jenseits der zeitgeschichtlichen Wirklichkeit, das sie als Baumaterial nutzt, um ihre poetischen Phantasmagorien in den Wunderbauten ihrer Verse und Sätze zu gestalten. Hier braucht es kein Parlament, kein Grundgesetz, aber eine innere Verfassung. Der zentrale Artikel dieses Vertrages mit sich selbst lautet: „Das Leben der Imagination und Phantasie ist unantastbar. Es zu schützen und zu gestalten ist Aufgabe aller seelischen Kräfte.“ Ihr magisches Theben ist eine Metonymie für die Idee der Freiheit der Kunst und der Kunst, frei zu leben. 

 

Ihre überwältigende Imaginationskraft war ihr Kennzeichen, aber ihre Dichtung ist auch ein Konstrukt, das sich aus dem Spiel mit den Elementen der Zeitgeschichte speist. Anders als häufig angenommen, verfügt die Dichterin auch über einen gut entwickelten Realitätssinn. Trotz Armut und den Härten einer Existenz als freischaffende Schriftstellerin und alleinerziehende Mutter hält sich Else Lasker-Schüler über Wasser. Sie ist in der Literaturszene bestens vernetzt. Immer findet sie Menschen, die auch in Not und tiefer Verzweiflung zu ihr halten und sie finanziell großzügig unterstützen. In Berlin war sie eine Art Heilige Else der Literatencafés, wo sie, wie auch später in Jerusalem, Hof hielt. In hellsichtigen Gedichten porträtiert sie mit einem sehr genauen Blick für Menschen die Dichter, die sie auf ihrem Weg begleiteten. In Teilen der literarischen Elite genoss sie hohes Ansehen. Schon 1912 hätte sie fast den Kleistpreis bekommen, damals die höchste literarische Auszeichnung Deutschlands. Immer wieder bringt sie sich ins Gespräch, vor allem bei dem Lyriker Richard Dehmel, dem damaligen Königsmacher dieses Literaturpreises. 1932 ist es dann so weit: Nun steht die Ausgezeichnete in einer Reihe mit Bertolt Brecht, Robert Musil und Carl Zuckmayer. Der Völkische Beobachter giftet – natürlich – gegen die "knabenhaft-dürre Jüdin": "Für uns ist, was immer eine Jüdin auch schreibt, vor allem keine deutsche Kunst." Als diesem drohenden Ton ein Jahr später (Un-)Taten folgen, geht Else Lasker-Schüler sofort ins Exil.

 

Tino von Bagdad, Jussuf von Theben

 

Für die im rheinländischen Theben, also in Elberfeld, Geborene werden vornehmlich orientalische und alttestamentarische Figuren zu den Projektionsflächen ihrer Ich-Konstruktion. Mit sich selbst und ihren Figuren treibt sie Mimikry, sie entwirft immer neue Selbstbilder und Bilder der ihr nahestehenden Menschen. Zuerst ist sie der Blaue Jaguar, Tino von Bagdad, die Dichterin Arabiens. Dann wird Jussuf ihr alter ego: ein hellsichtiger Hinweis, ihre Dichtung nicht als bloße poetische Träumerei miss zu verstehen. Nicht einen Träumer, sondern den verstoßenen Traumdeuter Joseph wählt sie zum gleichnishaften Bild ihres Dichtertums. Er kann tief in die Seelen der Menschen blicken und die Schicksalsläufe der Völker voraussehen.

 

Sie, die Jüdin, sieht sich als Malik, jenen Malik, der im Koran einer der 100 Namen für Mohammed ist. Als Malik ist sie der König des fiktiven Königreichs Theben, dem Imaginationsraum ihrer Dichtung, in der Frieden unter den Völkern und Religionen herrscht. Diese Vision entwickelt sie mitten im I. Weltkrieg. In ihren Briefen an Franz Marc zieht sie – ebenso wie ihr Malerfreund – in den Krieg. Doch während der an der Front vor Verdun als Soldat kämpft, kämpft sie mit den Dämonen und Gespenstern ihrer Seele.

 

Immer wieder häutet sie sich. Als Tino, Jussuf, Malik und Abigail der (!) Erste. So wandelt sie das Geschlecht der Schwester Davids in ein männliches. Sie spielt nicht nur mit dem grammatischen Geschlecht, sondern auch mit der sexuellen Identität, was ihrem androgynen Selbstbild entspricht. Franz Marc gesteht sie in einem ihrer Briefe, die sie in ihren opiumgeschwängerten und sexuell unerfüllten Nächten in der Berliner Dachmansarde – „den Sternen ganz nah“ – schrieb: „In der Nacht spiele ich mit mir Liebste und Liebster; eigentlich sind wir zwei Jungens. Das ist das keuscheste Liebesspiel auf der Welt; kein Hinweis auf den Unterschied, Liebe ohne Zweck und Ziel, holde Unzucht.“

 

 

Die Kinoniterin

 

Mitten in der Urkatastrophe des 20. Jahrhundert, den sie den „Wildkrieg“ nennt, wird ihr Theben zu einer Chiffre für ihre Utopie, bei der die Poesie alle kriegerischen Auseinandersetzungen überwindet. Frieden, die tiefe Sehnsucht und der hellere Urgrund aller Religionen, ist der eigentliche Topos dieses Thebens, das auf den Landkarten dieser Welt nicht zu finden ist. Aus den wirklichen Briefen an Franz Marc gestaltet sie nach Kriegsende einen fiktiven avantgardistischen Briefroman, der zwischen den Zeiten, dem realen Kriegsgeschehen und der mythischen Ebene hin- und herwechselt. Marc ist für sie Ruben aus der Bibel oder Ruben Marc von Cana; Gottfried Benn, in den sie sich zu dieser Zeit verliebt, wird zu Giselheer, der legendären Gestalt der germanischen Mythologie, umgedichtet, wahlweise und je nach Stimmungslage als König oder als Barbar. Menschen werden zu Wiedergängern, tauchen auf magische Weise über Jahrtausende und Kontinente hinweg wieder auf. So werden Figuren im Imaginationsraum ihrer Dichtung zu Wiedergeburten, zu Archetypen, zum privatmythologischen Personal ihrer ganz eigenen Welt(-sicht), transtemporale Spiegelungen ihrer poetischen Vorstellungskraft, durch den sie den Wesenskern eines Menschen freilegt und ihn zugleich mythisch überhöht.

 

Dieses Spiel der Auflösung von Zeit und Ort hatten auch andere gespielt: Hermann Hesse im Glasperlenspiel, Thomas Mann im Zauberberg. Möglicherweise bot ihr das Kino mit seinen ganz eigenen narrativen Techniken dazu eine Blaupause für ihre Art zu schreiben. Else Lasker-Schüler hat das Kino geliebt, gab häufig ihr letztes Geld dafür aus, um in die Dunkelkammer kollektiver Träume „meinwärts“ zu fliehen. Vielleicht war dies das Schlüsselerlebnis: 1913 unternimmt Else Lasker-Schüler eine Exkursion nach Dessau – gemeinsam mit Theodor Däubler, Franz Werfel, Paul Zech und Kurt Pinthus, der sie als Herausgeber der expressionistischen Gedichtsammlung "Menscheitsdämmerung“ als einzige Dichterin in seine Anthologie aufnehmen wird. Auf den nächtlichen Streifzügen gerät die Gruppe in ein kleines Kino. Pinthus schlägt danach vor, dass alle Autoren Drehbücher schreiben sollen. Else Lasker-Schüler, die das Kino liebte, sich selbst Kinoniterin nannte, verfasst tatsächlich ein Drehbuch: „Plumm-Pascha. Eine morgenländische Komödie“. Leider ist dieser Film nie gedreht worden. Wie auch alle anderen, die Else Lasker-Schüler im Kopf gehabt haben mag. Es ist einer der Wünsche, die sich in ihrem Leben nicht erfüllen sollte.

 

Dafür beginnt sie filmisch zu schreiben. Dem Kino bleibt sie treu, schenken die Filme ihr doch Vergessen und das Eintauchen in ihre Anderwelt, wenn sie traurig oder verzweifelt ist. In ihrem schweren Jerusalemer Exil schreibt sie ein Gedicht über das Cinema von bezaubernder Leichtigkeit:

 

Komm mit mir in das Cinema

 

Komm mit mir in das Cinema

Dort findet man, was einmal war:

Die Liebe!

Liegt meine Hand in deiner Hand,

Ganz übermannt im Dunkel.

Trompetet wo ein Elefant

Ganz plötzlich aus dem Dschungel –

 

Und schnappt nach uns aus heißem Sand

Auf seiner Filmenseide,

Ein Krokokodilweib, hirnverbrannt,

Dann  - küssen wir uns beide!

 

Als Jüdin mit Publikationsverbot konnte sie im Schweizer Exil ihren Traum, Filmdrehbücher zu schreiben und zu produzieren, nicht verwirklichen. Tatsächlich aber ist die Schreibweise ihrer späten Prosa filmisch: Montage, Zoom, Symbolik, Auflösung von Raum und Zeit prägen nun ihre Dichtung. Mit großer Leichtigkeit zoomt sie zwischen den Welten hin und her, löst in ihrer Prosa Zeit auf. Jeder Ort kann hier und jetzt sein - oder aber auch dort und damals. Kanaa begegnen wir mitten auf dem Ku’damm, Theben vor Verdun. Personen, Orte und Ereignisse werden über Jahrtausende zu einem poetischen Amalgam verdichtet. Durch dieses ästhetische Spiel, in dem Wirklichkeit und Traum, Gestern und Heute, Ich und Du, Ich und Ich ununterscheidbar in eins zerfließt, inszeniert sie zugleich die Einheit von Leben und Dichtung als einen Zustand von Glück, ironische Brechungen inklusive.

 

In ihrer bildmächtigen und filmischen Art zu schreiben, ist sie ihrer Zeit voraus. Transpersonal und transtemporal ihre poetische Welt konstruierend, mit den sexuellen Identitäten spielend, mit Drogen experimentierend, eine Aussteigerin aus der Welt von Gestern (Stefan Zweig) und weit jenseits der Komfortzone bürgerlicher Sicherheit und „machtgeschützter Innerlichkeit“ (Thomas Mann) durchhaltend, erscheinen Leben und Werk Else Lasker-Schülers, retrospektiv betrachtet, wie ein Vorspiel avantgardistischer Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts:

 

Null-Zustand

 

In der Inszenierung der Einheit von Leben und Werk, in der Selbstmythisierung, in der Behauptung der Kunst als einer Gegenwelt, die Wirklichkeit transformieren kann, ist sie Beuys‘ Konzept der sozialen Plastik und den Künstlern der Fluxus-Bewegung nahe: „Es geht um in das Leben einwirkende Produktionsprozesse und nicht um die Abschottung der Kunst vor dem Leben. Das Kunstwerk ist ein Leben, und das Kunstwerk ist Leben“, beschreibt Emmet Williams die Fluxus-Programmatik. 

 

Über mehr als ein Jahrhundert hinweg transformierte sich da eine Kunstidee, deren Protagonisten unter anderem die Künstler des Dada waren und die ihren Ausgang ideengeschichtlich im deutschen Idealismus hatte: Schiller entwickelte in den Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ ein Programm zur Überwindung von Unrecht und Ungleichheit, kriegerischen Affekten durch die Habitualisierung einer ästhetischen Haltung. Im 21. Brief postuliert Schiller, dass sich der Mensch von den Bestimmungen des Körpers und des Geistes lösen solle, um einen Zustand der Bestimmungslosigkeit, eine Art „Null-Zustand“ zu erreichen. Erst die vollkommene Leere und die Zweckfreiheit setze die Kraft der Phantasie und der Imagination frei, die sich im unendlichen Spiel der Möglichkeiten entlädt. Kunst und Kreativität, die gestaltenden Kräfte der Phantasie veränderten und humanisierten die Gesellschaft. Von dieser Idee Schillers der „leeren Unendlichkeit“ lassen sich mühelos Linien ziehen zu Malewitschs Schwarzem Quadrat, zu John Cages 4`33, zu Beuys‘ Performances, zu den Stücken Pina Bauschs, zum Free Jazz. Und eben auch zur Dichtung Else Lasker-Schülers.

 

Else Lasker-Schüler hatte in ihrem Leben Schicksalsschläge erlitten und in Abgründe geschaut. Ihre künstlerische Haltung zu den Anfeindungen des Lebens teilt sie mit Franz Marc, der schreibt: „Ein Dämon gibt uns zwischen die Spalten der Welt zu sehen, und in Träumen führt er uns hinter die Welt. Kunst ist ja nichts weiter als der Ausdruck unseres Traumes, je mehr wir uns ihr hingegeben, desto mehr nähern wir uns der inneren Wahrheit der Dinge, unserem Traumleben, dem wahren Leben.“

 

Die Dichtungen der Else Lasker-Schüler sind in diesem Sinne Rückzugorte poetischen Spiels. Ihre zur Dichtung gestalteten Träume sind Blicke durch den Vorhang der geschichtlichen Irrtümer und Katastrophen auf die Welt, wie sein könnte, wie sie sein sollte. Gegen den Wirklichkeitssinn verteidigt sie den Möglichkeitssinn und das utopische Denken. Schreiben und Dichten sind Akte der Verteidigung der Humanität, in der die eigene Würde und stellvertretend die Würde des Menschen überhaupt bewahrt wird. In ihrem Nachruf auf den Malerfreund Franz Marc wird dieser Zusammenhang deutlich. Voller Verbitterung erkennt Else Lasker-Schüler nach dem Tod Marcs vor Verdun: „… wir können uns nur noch zerhacken oder gleichgültig vorbei gehen. In dieser Nüchternheit erhebt sich drohend eine unermessliche Blutmühle, und wir Völker werden bald zermahlen sein.“ Den Gegenentwurf dazu beschreibt sie im folgenden Satz: „Nie sah ich einen Maler gotternster und sanfter malen wie ihn. ‚Zitronenochsen‘ und ‚Feuerbüffel‘ nannte er seine Tiere. Tigerinnen verzauberte er zu Anemonen; Leoparden legte er das Geschmeide der Levkoje um.“

 

Die Dichtungen Else Lasker-Schülers sind ebensolche Gegenentwürfe mit den Mitteln der Dichtung. Sie folgen keiner Ästhetik des Widerstands, keinem Agitprop und keinen Postulaten engagierter Literatur. Camus wäre Else Lasker-Schüler näher als Sartre, denn sie ist auf ihre ganz eigene Art und Weise eine Dichterin in der Revolte: Sie bleibt ihren Themen treu und rollt - immer und immer wieder - den Stein der Dichtung wider die Gravitationskraft der geschichtlichen Verhältnisse den Berg der Poesie hinauf. Bis zum letzten Atemzug haucht die Glasbläserin ihren Gedichten Leben ein. Mit ihrer Lyrik und Prosa behauptet sie das Existenzrecht der Phantasie und der Poesie als Heimstatt menschlicher Würde gegen Krieg und Staatsterror. Dem Möglichkeitssinn der Dichterin folgend, könnte für uns, die wir ihrem Werk heute, 150 Jahre nach ihrer Geburt begegnen, gelten, was Goethe seinem als Träumer gestalteten Freiheitshelden Egmont in den Mund gelegt hat: „Die Menschen sind nicht nur zusammen, wenn sie beisammen sind; auch der Entfernte, der Abgeschiedene lebt [unter] uns. Ich höre auf zu leben; aber ich habe gelebt.“

 

Heiner Bontrup hat in Wuppertal Germanistik und Philosophie studiert. Er ist Stellvertretender Vorsitzender der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft sowie Gründer und Künstlerischer Leiter des Theaters Anderwelten (www.theater-anderwelten.de), das nach neuen Ausdrucksformen im Grenzbereich von Schauspiel, Tanz, Literatur, Musik und Medienkunst sucht. Das Team ist ein Kollektiv von professionellen und freien Kulturschaffenden aus Wuppertal und Köln.